Alltag, aber nicht für alle

Grenzübergang Deutschland, EU
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Junge Europäerinnen und Europäer halten ihre Bewegungsfreiheit auf dem größten Teil des Kontinents für selbstverständlich. Armutsmigranten haben es ungleich schwerer

Europa – ein künstliches Gebilde? Jenseits der politischen Zentren wird es längst Tag für Tag gelebt. 1989 fiel der Eiserne Vorhang, von 1995 an gab es zwischen den meisten Ländern keine Grenzkontrollen mehr, und 2002 wurde der Euro als Bargeld eingeführt. Das hat die politischen, kulturellen und psychologischen Grenzen in den Köpfen und in den Gesellschaften aufgehoben. Reisefreiheit, also das Privileg,
sich auf dem Kontinent frei bewegen zu können, ist für viele EU-Bürgerinnen und Bürger heute Normalzustand.

In Europa gilt dies für die meisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion und die Länder des Westbalkans, die auf Visa angewiesen sind, freilich nur eingeschränkt. Doch in mittlerweile zwei Dritteln des Kontinents hat sich eine transeuropäische Dynamik der Bewegung, Durchlässigkeit und Vielfalt entwickelt – ein ureigenes, nachnationales Phänomen. Die grenzüberschreitende Vernetzung ist zum Kennzeichen der jungen Generation geworden, die ihren Reisepass nur noch benutzt, wenn das Ziel exotisch ist.
 

Die "Easyjetter" fliegen, von ökologischen Gedanken wenig gequält, über das Wochenende zu Partys und Konzerten in andere Länder. Die Statistik belegt den Augenschein: 2011 nahmen 33 Prozent aller Jugendlichen aus dem europäischen Ausland, die Deutschland besuchten, ein Flugzeug; in Gegenrichtung waren es 45 Prozent. Urlaubstrips, Freiwilligenjahre und Bildungsprogramme haben Vorlieben, Freundschaften und lang anhaltende Bindungen hervorgebracht und Europa zu einem Begegnungsraum gemacht.

Allein 2011 nahmen über 250.000 Jugendliche im Rahmen ihres Studiums oder eines Praktikums am Erasmus-Programm der EU teil, davon 33.000 Deutsche. Vor allem Spanien, Frankreich und Großbritannien sind beliebt, aber auch die Türkei liegt noch unter den Top 10 von 32 Zielländern, zu denen auch einige Nicht-EU-Mitglieder gehören. Wegen ihres Erfolges erhalten Erasmus und einige andere Auslandsprogramme, insgesamt als Erasmus+ bezeichnet, von 2014 an rund 40 Prozent mehr Mittel als zuvor. Mit mehr als zwei Milliarden Euro jährlich will die EU bis 2020 vier Millionen Auslandsaufenthalte finanzieren – zur einen Hälfte für Studierende an Hochschulen, zur anderen für Berufsausbildungen, Praktika und Trainings, um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen.
 

Die Beherrschung von Fremdsprachen und interkulturelle Kompetenzen steigt. Auch der Anteil der nach Staatsangehörigkeit gemischten Ehen nimmt in den meisten Ländern zu. Auch wenn davon nicht alles auf die EU zurückzuführen ist, fördert sie die Mobilität ihrer Bürgerinnen und Bürger. Von zentraler Bedeutung sind das grenzüberschreitende Arbeiten im Binnenmarkt, die weiträumige Zusammenarbeit von Behörden und Verbänden sowie die Städtepartnerschaften. 2010 wurden knapp 40.000 Partnerschaften zwischen Städten und Gemeinden in ganz Europa gezählt; insbesondere in den osteuropäischen Ländern stiegen die Zahlen rasant an.

Euregios, die "Europaregionen", konstruieren neue und rekonstruieren alte grenzüberschreitende Wirtschaftsräume. Wanderungswege haben sich etabliert: In Großbritannien lebten vor der Finanzkrise bis zu 800.000 Polinnen und Polen. Armutsmigranten suchen ebenfalls das "gelebte Europa", aber sie haben es schwer. Roma ohne Arbeitsnachweis werden ausgewiesen, "Spargelstecher-Touristen" stehen für den Billiglohnbereich einiger Wirtschaftszweige, Arbeitssuchende aus Rumänien und Bulgarien lösen hitzige Diskussionen aus. Die europäischen Wanderarbeiter – von den weiblichen Prostituierten bis zu den männlichen Bauarbeitern – sind oft die Verlierer der Grenzöffnung und Marktintegration.
 

Viele europäische Bürgerinnen und Bürger leben mittlerweile in transnationalen sozialen Zusammenhängen. Vorschriften und Rechtsprechung hinken dieser Entwicklung weit hinterher, etwa bei der Arbeitslosenversicherung oder bei Scheidungen über die Landesgrenzen hinweg. Die europäische Sozialgesetzgebung ist noch hartnäckig an das Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität geknüpft. Wer heute 25 Jahre alt ist, kann über solche systemischen Unzulänglichkeiten in der EU nur den Kopf schütteln, weil bereits so viel Lebensweltliches in der Union selbstverständlich erscheint.

Dabei stockt die politische Integration. Die Eurokrise spült Nationalisten nach oben, die Schweiz stimmte gegen die Freizügigkeit (und schied deshalb aus dem Erasmus-Programm aus), die Konservativen in Großbritannien bereiten sich auf ein Referendum zum Austritt aus der EU vor. Dass der Prozess der Integration umkehrbar sein könnte, ist für junge Alltagseuropäer kaum vorstellbar. Dass es nicht so weit kommt – dafür wird sich die junge Generation einsetzen müssen.
 

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